1933-40
Reichskristallnacht
Enteignungen
1933 bis 1940
Das Ende der Juden in Oldersum
Schon vor 1933 gab
es bekanntermaßen "Judenfeindlichkeit" und Antisemitismus,
auf der ganzen Welt, in Deutschland und auch in Ostfriesland. Erwähnt
werden soll hier nur der "Gödenser Pogrom" von 1782 oder, natürlich
mit wesentlich geringeren Auswirkungen, das "am-Bart-zupfen-und-mit-Steine-bewerfen"
eines vermutlich orthodoxen Juden in Oldersum 1825. Anfang der 1920er
Jahre und insbesondere Ende der 20er und Anfang der 30er Jahre spitzte
sich die Lage aufgrund des immer offeneren und aggressiveren Auftretens
der Nationalsozialisten überall in Deutschland zu. Im August
1926 kam es auf dem Leeraner Viehmarkt zu Handgreiflichkeiten zwischen
Studenten, die ein großes Hakenkreuz offen an der Jacke trugen
und jüdischen Leeraner Viehhändlern.
Es sind Vorfälle in
Oldersum bekannt, die auf das Verhältnis von Juden und Nicht-Juden
schließen lassen bzw. über die Erfolge der nationalsozialistischen
Gleichschaltung des öffentlichen Lebens Anfang der 30er Jahre
Aufschluß geben: die Schulklasse mußte, angeführt
von dem damaligen 3. Lehrer der Oldersumer Schule, zum Sportunterricht
von der früheren Schule an der Kirche (jetzt Dorfgemeinschaftshaus)
zur Turnhalle an der Große Brücke (am Hause van Borssum,
ehem. Waage) laufen. Während des kurzen "Spaziergangs" wurden
antisemitische Lieder gesungen; vor den jüdischen Häusern
die auf dem Weg lagen (Textilgeschäft Zilversmit und
Wohnhäuser Polak in der Kirchstraße 177 sowie Brückstraße
182) wurde kurz angehalten und besonders laut gesungen.
Die Nazis verschärften
das politische Klima, für jüdische Geschäfte wurde
am 01.04.1933 der Boykott festgesetzt, SA sorgte vor den Geschäften
dafür, daß niemand hineinkam, die Juden wurden, u.a. mittels
Gesetz aus dem öffentlich Dienst verdrängt (Gesetz zur
Wiederherstellung des Berufsbeamtentums). Vereine und Verbände
wurden gleichgeschaltet und künftig nach dem "Führerprinzip"
geführt. Die inzwischen ebenfalls gleichgeschaltete Presse
begleitete die Vorfälle entsprechend und hetzte gegen die Juden.
Die Drangsalierungen nahmen immer mehr zu, in Norden gab es Übergriffe
der SA gegen einen jungen Juden und seine "arische" Freundin wegen
sog. "Rasseschändung", bei denen Zuschauer Beifall klatschen,
1935 wurden die "Nürnberger Gesetze" erlassen.
Das führte dazu, daß
Handel oder private Kontakte mit Juden nur noch Nachts stattfanden.
Wer weiterhin mit Juden handelte oder sich mit ihnen abgab, mußte
mit Beschimpfungen, Nachteilen und Anzeigen seitens der Nationalsozialisten
rechnen. Mindestens ein Fall einer Anzeige gegen einen Oldersumer
Händler ist bekannt.
Die endgültige Ausschaltung
der Juden aus dem Wirtschaftsleben, für Ostfriesland und Oldersum
insbesondere aus dem Viehhandel, ging langsamer voran. So untersagte
das "Gesetz über die Änderung der Gewerbeordnung" vom
Juli 1938 den Juden den Handel und die Ausübung eines Gewerbes
außerhalb des Ortes der Niederlassung - das war der Ausschluß
aller Juden aus dem Viehhandel.
1933-40
Enteignungen
Die Geschehnisse
in Oldersum um den 9./10. November 1938 ("Reichskristallnacht" /
"Reichspogromnacht" / "Novemberpogrom")
Nach dem Attentat auf den
Gesandtschaftsrat vom Rath in Paris und ersten Übergriffen
der SA und der SS gegen die jüdische Bevölkerung in Hessen
und Sachsen-Anhalt am 07. und 08. November kamen am 09.11. direkt
aus München von der Gedenkfeier der NSDAP die Anweisungen zum
Pogrom an die NSDAP-Gauleitungen und -Dienststellen sowie an die
SA-Brigaden und Standarten und schließlich an die örtlichen
SA-Stürme. Daraufhin läuft auch in Ostfriesland der Pogrom,
von höchster Ebene generalstabsmäßig geplant und
geleitet, ab. Wohnungen und Geschäfte der Juden wurden geplündert,
die jüdische Bevölkerung wie Vieh zusammengetrieben.
Bereits am 08.11.1938 fand
auch in Oldersum, vermutlich in der Gastwirtschaft Jakobs (später
Boekelmann), eine Gedenkfeier der örtlichen NSDAP statt. Die
folgenden Vorgänge in Oldersum standen in unmittelbarem Zusammenhang
mit den Vorgängen in der Kreisstadt Leer.
In den ersten Stunden des
10. Novembers organisierte in Leer der Bürgermeister und Gauinspektor
Erich Drescher sowie der für den Landkreis Leer zuständige
Standartenführer Meyer und Sturmbannführer Vollmer den
"angeordneten" Pogrom. Sowohl der aktive Sturm unter Führung
von Sturmführer Klinkenborg wie der Reserve-Sturm unter Sturmführer
Harm Klock kamen hierbei zum Einsatz. Mit Hilfe von Benzin wurde
die Synagoge in der Heisfelder Straße in Brand gesetzt. Die
anwesende Leeraner Feuerwehr beschränkte ihre Tätigkeit
anweisungsgemäß auf den Schutz der Nachbarhäuser.
Bei der "Aufholung" der Leeraner Bürger jüdischen Glaubens
gab es erhebliche Ausschreitungen. Die Juden wurden fast ausnahmslos
im städtischen Viehhof auf dem Nessegelände zusammengetrieben
und mißhandelt. Im Laufe des vormittags wurden die Frauen,
Kinder und nicht arbeitsfähige Männer entlassen, so daß
43 Leeraner Juden in den Kleinviehverkaufsstand "verlegt" wurden.
In den frühen Morgenstunden
erfolgte durch Sturmführer Klock und weiteren 6 bis 7 SA-Leuten
die Aufholung der Juden in Loga. Nachdem 8 Personen jüdischen
Glaubens mit dem LKW in die Viehhallen nach Leer gebracht wurden,
fuhr Klock mit 4 bis 5 SA-Leuten weiter nach Oldersum zum Haus des
Bürgermeisters R. in der Bahnhofstraße. Sie wollen, ortsunkundig,
erfragen, ob es in Oldersum eine Synagoge gibt bzw. wo Juden wohnen.
Nach dem Kontakt mit R. fuhren die SA-Leute zum Marktplatz, wo sich
die Gruppe teilte. Einige Männer unter der Führung von
Klock holten Marianne und Isaak Cohen aus ihrem Haus in der
Neustadtstraße 4 und brachten sie zum Marktplatz, der Oldersumer
SA-Mann Göke W. stieß dazu. Die andere Gruppe der SA-Männer
holten "Karl" (Isaak-Abraham) Polak aus seinem Hause in der
Kirchstraße. Als Klock mit Marianne und Isaak Cohen am Marktplatz
eintrafen, saß Karl Polak bereits auf dem LKW. Klock "entließ"
dann, nachdem er sich telefonisch erkundigt hattte, Marianne Cohen
nach Hause.
Der LKW fuhr dann mit den
beiden männlichen "Gefangenen" über Warsingsfehn und Iheringsfehn,
wo die Juden "Driels" und "Weinthal" "aufgeholt" werden sollten,
nach Leer - gegen 11 Uhr traf der LKW mit den 5 "Gefangenen" auf
dem Viehmarktgelände ein. W. blieb noch eine Weile in Leer
und fuhr am Nachmittag, nachdem er von Standartenführer Meier
die Anweisung erhalten hatte, in Oldersum noch Sachwerte der Juden
zu "beschlagnahmen", mit dem Zug zurück nach Hause. Gegen 18
Uhr suchte W. mit dem jetzt hinzugekommenen SA-Mann B. aus Neermoor
sowie zwei weiteren SA-Männern die Wohnung der Cohens in der
Neustadtstraße auf. Marianne Cohen öffnete und erkundigte
sich verängstigt nach dem Befinden ihres Bruders. W. beruhigte
sie und verlangte nach Sachwerten. Marianne Cohen hatte angesichts
des Schicksals ihres Bruders und der mittlerweile bekanntgewordenen
Geschehnisse in Ostfriesland und ganz Deutschland keine andere Möglichkeit,
als mitanzusehen, wie verschiedene Wertgegenstände und Vieh
mitgenommen wurden.
Während die "toten"
Sachen ins SA-Sturmbüro in der Brückstraße (neben
Seilerei Diepen) gebracht wurden, wurden die beiden Kühe, davon
eine hochtragende, gegen 21.30 Uhr zum Landwirt V. in der Zinngießerstraße
gebracht.
In den Leeraner Viehhallen
verblieben nach Entlassung der Alten, Frauen und Kinder noch 56
Männer, darunter Isaak Cohen und Karl Polak, die dann am folgenden
Tag (11.11.1938) zusammen mit ca. 200 anderen Ostfriesen nach Oldenburg
überführt wurden. In Oldenburg wurden sie in einer Kaserne
zusammengetrieben. Ca. 1.000 jüdische Ostfriesen, Oldenburger
und Bremer wurden dann mit einem Zug in das Konzentrationslager
Oranienburg-Sachsenhausen nördlich von Berlin gebracht.
Im ganzen Reich gab es 91
Tote durch den Pogrom, in Emden starb Daniel de Beer an den Folgen
eines Lungendurchschusses, den ihm die SA in der Pogromnacht beigebracht
hatte. Die Juden blieben bis Dezember '38 oder Anfang '39 in den
Lagern inhaftiert. Nach und nach wurden sie wieder freigelassen,
vorzugsweise diejenigen, die den Nachweis für ihre Auswanderung
erbringen konnten; es begann eine große Auswanderungswelle.
Auch Isaak Cohen und Karl
Polak kehrten aus Sachsenhausen zurück. Isaak Cohen und Amalie
("Martha") Polak erschienen noch bei Bürgermeister R., berichteten
von den zerschlagenen Scheiben und der persönlichen Situation.
Wochen nach der "Kristallnacht" kam von der SA-Standarte der Befehl,
die "beschlagnahmten" Sachen zurückzugeben, ob alles zurückgegeben
wurde, läßt sich nicht feststellen.
Nach der Rückkehr der
Juden aus den Konzentrationslagern wurden vielerorts Ghettos gebildet
bzw. die Juden auf bestimmte, wenige Häuser und damit übersichtlich
konzentriert. In einem Schreiben vom 17.09.1939 des Gendamerie-Gruppenpostens
Oldersum an die Gendamerie-Abteilung Leer sind folgende drei Oldersumer
Juden alle in einem Haus gemeldet, nämlich im Haus der Familie
Cohen in der Neustadtstraße 22 ("Haus Gemüse Bruns"):
Isaak Cohen, Marianne Cohen und Amalie (Martha) Polak. Bei
allen drei Personen ist angegeben "ohne Beruf". Das Schreiben ist
unterzeichnet von Gendamerie-Meister Rasner.
Die Gestapo verfügte
im Februar 1940, das alle Juden Ostfriesland bis zum 01.04.1940
zu verlassen hätten. Sie sollten sich im übrigen Deutschland
mit Ausnahme Hamburgs und der linksrheinischen Gebiete neue Wohnungen
suchen. Lediglich Personen über 70 Jahre war ein Aufenthalt
im jüdischen Altenheim in Emden gestattet. Im April 1940 meldeten
die ostfriesischen Städte und Landgemeinden dem Regierungspräsidenten,
früher als anderswo im Reich, daß sie "judenfrei" seien.
Ein sehr großer Teil
der Juden des Weser-Ems-Gebietes wurde am 18.11.1941 nach Minsk
deportiert und dort fast ausnahmslos bis Juli 1942 "durch Arbeit
vernichtet" oder ermordet. In Minsk-Stadt sind am 28. und 29.07.1942
rund 10.000 Juden (davon ca. 6.500 russische Juden) liquidiert worden,
darunter vermutlich auch Siegfried Polak, geb. 1905 in Oldersum
und Ester Weiss, geborene Cohn, geb. 1862 in Oldersum.
Insgesamt sind ca.
1.000 ostfriesische Juden in den Konzentrations- und Vernichtungslagern
der Nazis ermordet worden.
1933-40
Reichkristallnacht
Die Ausschaltung der
Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben durch Eigentumsübertragungen
in "deutsche Hände"
Nachdem die Bürger
jüdischen Glaubens entrechtet und diskriminiert wurden, nahm
man ihnen vor ihrer Vertreibung oder Verschleppung noch ihren Haus-
und Grundbesitz weg. Anfangs erfolgte dies mit Rücksicht auf
wirtschaftliche und außenpolitische Gründe nur sporadisch
und "freiwillig": unter dem wachsenden politischen und wirtschaftlichen
Druck der Nazis sahen sich die jüdischen Kaufleute und Händler
oft gezwungen, ihren Besitz zur Aufrechterhaltung ihres Betriebes
zu belasten. Es gelang ihnen natürlich nicht, ihre Schulden
während der Nazi-Herrschaft abzutragen, so daß am Ende
die Zwangsversteigerung stand. Später, ab 1937/38, wurde dies
systematisch und "bürokratisch geregelt", es wurde zahlreiche
Gesetze und Verordnungen erlassen, die zur zwangsweisen Enteignung
führten.
Die "Reichskristallnacht"
war schließlich der Auftakt für die endgültige Ausschaltung
der Juden aus dem Wirtschaftsleben. Geschäfte und Wohnungen
wurden geplündert und zerstört, Sachwerte und Bargeld
beschlagnahmt und nur zum Teil zurückgegeben, die jüdischen
Bürger mißhandelt und verschleppt.
|