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Das schöne Bild der friesischen Freiheit, wie es die ostfriesische Geschichtsschreibung nennt, hat eine hässliche Kehrseite. Das bekannte Lied:
  
Hier herrschte nie die Frone
Hier war der Bauer Graf
Wo aller Friesen Wahlspruch
Ist: lever dot als Slav

traf nur auf die besitzende Bauernschicht zu. Die Landarbeiter die zeitlebens beim Bauern arbeiteten, konnten - sobald sie "ihren Mund aufmachten" - gehen. "Gehen" bedeutete gehen und verhungern. In den fruchtbaren Marschgebieten Ostfrieslands hatten sich im 19. Jahrhundert frühkapitalistisch ähnelnde Verhältnisse gebildet. Sie glichen denen der Industriestädte. Wenige reiche Bauern geboten über ein Heer besitzloser Landarbeiter. In Rysum, wo ca 800 Einwohner bis Kriegsende wohnten, gab es 13 Bauern, denen etwa 600 Menschen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert waren. 
Das Essen bestand aus abgezählten Kartoffeln, Buttermilch, Brot sowie Erbsen (manchmal mit Speck). Merkte die Bäuerin, dass die Magd einmal mehr auf den Tisch stellte, wurde es gleich wieder abgeräumt. 
Die Wohnungen waren Bretterverschläge im Kuhstall. Im Winter lag man neben den Kühen, um im Warmen zu schlafen. 
Das Vorderhaus, in dem der Bauer wohnte, bekam der normale Landarbeiter in seinem ganzen Leben nicht zu sehen. Berechnungen aus den 20er Jahren ergaben, daß pro Landarbeiterperson eine durchschnittliche Wohnfläche von 1,5 qm zur Verfügung stand. Das Verhältnis zwischen Polderfürsten, wie die reichen Marschbauern genannt werden, und den Landarbeitern wird durch Ausspruch: "De Buern, de schull'n wi all ut hör Graff rutholen un noch mal doothauen" mehr als verdeutlicht. 
Nach dem Motto "lever dot at Slav" siedelten sich viele Landarbeiter und Mägde in Moorgegenden wie z. B. Moordorf bei Aurich oder in Stapelmoorerheide bei Weener an, um dort in Freiheit leben und arbeiten zu können. Die Moorkolonisation wurde zu einem grausamen Unterfangen. 

Die Lebensbedingungen waren vielerorts noch unmenschlicher als beim Bauern in der Marsch. Es entstand die Losung: 
den ersten de dot
den tweden de not
den dreden dat brot.

Auszug aus der Beschreibung der Wohnsituation in einem Moorkolonistenhaus in Stapelmoorerheide um 1890: Tagein, tagaus lebte die Familie in einem Raum von 13 Quadratmetern, der Küche, Wohnstube und Schlafzimmer zugleich ist. Die Fenster lassen sich nicht öffnen, der Herd qualmt. Sie haben nur 2 Butzen, - zwei Schlafplätze - für Großvater, Großmutter, Vater, Mutter und drei Kinder (7, 5 und 3 Jahre). Die älteste Tochter und der Jüngste schlafen bei den Großeltern in der Butze, das fünfjährige Mädchen schläft bei den Eltern im Bett. Um die sittlichen Gefahren abzuwenden, wurde insbesondere von der Kirche versucht, für die Großeltern einen Platz im Armenhaus zu organisieren.
Die Grippewellen der folgenden Jahre, die in Europa wüteten, trafen die ärmsten und schlecht ernährten Menschen am härtesten. In vielen Familien der Moorkolonisten starben insbesondere die abwehrschwachen Kinder. Der Tod schaffte Raum in den winzigen Gulfhäusern.
Selbst bis kurz vor der Niederkunft mußten sich viele Frauen während der Ernte bei Bauern im Rheiderland als Binderin im Akkord verdingen, um so ein paar Groschen für den Lebensunterhalt dazuzuverdienen. Dieses zusätzliche Geld wurde u. a. dazu verwendet, um eine Steinmauer um das Gulfhaus zu setzen, damit es nicht weiter durch die morschen Bretter regnete. Heu und Geräte verrotteten im Gulfhaus.
Als nahezu verschwenderische Investition wurde vordergründig die Anschaffung eines Fahrrades angesehen. Im Nebenverdienst wurden Besen aus Heide hergestellt. Mit einem Fahrrad konnte man im Sommer an einem Tag bis Papenburg, Leer oder sogar bis Emden fahren, um dort die besseren Marktchancen zum Verkauf zu nutzen.
In vielen Familien schaffte man es jedoch erst in der dritten Generation sich eine Mauer um das Lehmhaus zu setzen. Dies geschah nicht selten erst um 1930.

 

Moorkolonistenhaus aus Stapelmoorerheide um 1930 mit Mauer um das Gulfhaus.

Heute wieder aufgebaut im Museumsdorf Cloppenburg

Die innere Kolonisation des moorreichen Ostfrieslands wurde im 18./19. Jahrhundert zu einem lohnenswerten Projekt für Preußen. Den in der Regel relativ mittellosen Siedlern wurden viel zu kleine Parzellen überlassen, so daß der unergiebige Boden schnell erschöpft war. Die Erbpacht konnte nicht mehr bezahlt werden und die Kolonisten versanken in bittere Armut. Die jährlichen Einnahmen der Preußen beliefen sich auf stattliche 200.000 Taler.

Moordorf als Moorkolonie gehörte zu den kinderreichsten und gleichzeitig ärmsten Dörfern Deutschlands. In den Betten der Lehmkaten übernachteten nicht selten 3 bis 4 Kinder in einem Bett. Bis weit in den Herbst liefen die Kinder barfuß. Dabei ist zu beachten, daß es im Moor wesentlich früher als in anderen Landstrichen friert. Für die Schule hatten die Kinder keine Zeit, da sie früh gezwungen wurden mitzuarbeiten oder zu betteln. Die Jungen und Mädchen landeten vielfach wieder als Knechte oder Mägde beim Bauern. 


Möchte man sich einen beeindruckenden Überblick  der Lebensumstände im ehemaligen Moordorf machen sollte man unbedingt das Moormuseum besuchen


In der Weimarer Republik gehörte Moordorf zu den Hochburgen der Kommunisten, die über 50 % der Stimmen bei den Reichs- und Landtagswahlen erhielten. Nach 1933 wurden die Kommunisten von den Nazis stark verfolgt. Sie wurden als arbeitsscheues, asoziales, minderwertiges und vorbestraftes Gesindel angesehen und hatten entsprechende Repressalien zu ertragen. 
 

Über das Dorf Moordorf hat der Oldenburger Journalist und Politologe Andreas Wojak ein 324 Seiten spannendes Buch geschrieben. Es handelt sich um seine Dissertation.
Andreas Wojak; Moordorf, Dichtung und Wahrheit über ein ungewöhnliches Dorf in Ostfriesland; Edition Temmen, Bremen 1992; 324 S.; 32 DM