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Glück im Unglück

Niemand hatte damit gerechnet, aber es kam trotzdem genauso. 26 Grad im Schatten, und das Anfang April. Das hatte es in meinem Leben bis dahin vermutlich noch nicht gegeben. Zumindest konnte ich mich nicht daran erinnern. Die Wettervorhersage hatte also recht gehabt. Heute war Angeltag!
Mein Kumpel Thomas wohnte direkt am Randkanal. Fünf Schritte von seinem Grundstück über die kleine Einbahnstraße und man musste schon fast wieder ein Stück zurückgehen, um keine nassen Füße zu bekommen. So saßen wir also auf Badehose direkt am Kanal und hatten jeder eine Stippangel dabei. Die tennisballgroßen Futterbälle, die Thomas geformt hatte, enthielten eine streng geheime Zusammensetzung der allerfeinsten Zutaten, die er nicht einmal mir (seinem besten Kumpel) verriet.
Meine Stippangel war mit fünf Metern Länge noch relativ kurz. Zum Glück war sie nicht so schwer. Ich hatte keine Lust auf einen Tennisarm. Wir nahmen Maden und Caster (verpuppte rötliche Maden) als Köder.

Mit einem lauten "Platsch!" fielen die ersten Futterbälle zielgenau auf die Stelle, die wir zum Angeln gewählt hatten. Thomas hatte eben ein Händchen für so was. Dann verschwand er, um kurz darauf wieder um die Ecke zu rufen: "Eh, Hotte - n` Bier?" "Klar!" Ist doch wohl logisch, dass bei dem Wetter ein Bier fällig ist.
Kaum hatten wir die Flaschen am Hals, verschwand Thomas seine Stachelschweinspose ganz plötzlich und ohne Voranmeldung (leichtes Zupfen). Ein routinierter Handgriff und der erste Brassen war auf dem Trocknen. Jetzt begann eine unvorstellbare Serie. Weißfisch-Alarm! Die kleinen in den Eimer und die großen in den Teich, der ja praktischerweise gleich um die Ecke lag. Rotaugen, Rotfedern und Brassen konnten sich kaum einig werden, wer zuerst Bekanntschaft mit unserem Eimer macht. Die meisten standen neben den Seerosen, die am Ufer des Randkanals keine Seltenheit waren. Natürlich kamen nur die kleinen in den Eimer, weil bald wieder Raubfischsaison war. Wir brauchten schließlich Köderfische. Kaum lag die Angel wieder im Wasser, fing die Pose auch schon an zu zupfen. Ein herrlicher Angeltag. Mann, hatten wir einen Spaß!
Jetzt ging ich mit dem Eimer los, um die Köderfische in die Regentonne umzufüllen. Bei der Hitze hätten die bestimmt nicht lange im Eimer überlebt.

Ein großer Schwall an der Oberfläche... noch eine Drehung... verdammt, was war denn das? Ich dachte, ich seh´ nicht richtig! Da versuchte doch so eine dicke, pelzige Bisamratte, meine Pose zu zerpflücken. Wo kam denn die so plötzlich her? An der anderen Kanalseite schwamm eine Entenfamilie vorbei, die sich köstlich über meine Erregung zu amüsieren schien. Auch Thomas konnte sich das Lachen trotz der ernsten Lage nicht verkneifen. Gott sei Dank hatte meine gute 1,5 Gramm Pose die Attacke überlebt.
Kurz darauf ein erneuter Zupfer und siehe da - erstaunlicherweise hatte eine verdammt große Schleie meine Maden genommen. Schnell war Thomas mit dem Kescher zur Stelle, um die goldbraune Schönheit in Empfang zu nehmen. Wow!!! Ein Edelfisch, wie man ihn nur selten zu sehen bekommt.
Nachdem wir ihr Gewicht mit knapp über 3 Pfund definiert hatten, setzten wir sie vorsichtig in den Teich.
Wenn man so einen Jackpot gelandet hatte, gab es bei uns immer die sogenannte Jackpot-Zigarette, und die genoss ich natürlich erst einmal...

Hände waschen - und weiter ging´s! Jetzt wurde es langsam ruhiger, und wir hatten Zeit , um über das soeben erlebte erst einmal ausführlich zu fachsimpeln. Typische Angewohnheit von Hobbyanglern. Während Thomas seinen Köder noch mal kontrollierte, sorgte ich dafür, dass unsere Kehlen nicht austrockneten. Jetzt meldete sich wieder meine "Stippe". Die Gegenwehr war diesmal nicht ohne.
Als Thomas sah, wie sich meine Stipprute wie zum letzten Gruß in Richtung Wasseroberfläche verneigte, fragte er, ob er schon mal den Kescher holen solle. Ich bat mir allerdings noch Bedenkzeit aus, denn ich wollte mich nicht blamieren, falls wieder mal ein kleiner Brassen einen Zwergenaufstand machte. Leider hatte ich noch keine Ahnung, was sich wirklich am anderen Ende der Angelschnur befand, aber das sollte ich bald auf schmerzliche Weise erfahren.

Wie ein U-Boot ging die Pose unter der Wasseroberfläche entlang. Langsam kam sie wieder hoch, und das war der Moment, der mir und meinem Kumpel für einen Moment den Atem stocken ließ. "Hast du das gesehen?" fragte Thomas aufgeregt und wusste nicht genau, ob er den Kescher holen, oder weiter zusehen sollte. Er entschied sich für den Kescher! Ich kannte meine Montage genau: 18er Hauptschnur, 12er Vorfach von 80cm Länge, 22er Haken.
Das Monster, das wir da zu sehen bekamen, war ein Spiegelkarpfen, der mit der Schwanzflosse am Wirbel endete, der das Vorfach und die Hauptschnur verband. Das bedeutete, dass er etwa 80 cm maß. Das konnte nicht gut gehen - nicht mit der Montage...
Anscheinend war unser Vorhaben jetzt aufgeflogen und der Karpfen entschied sich, erst einmal für die andere Seite des Kanals. Wenn ich gegen gehalten hätte, dann wäre ich den Sturkopf mitsamt meinem Angelgeschirr losgewesen. Das Einzige, was ich tun konnte, war mit ausgestrecktem Arm mit dem Karpfen mitzulaufen. Das mitzumachen, was er wollte. Und dafür reichte die Länge der Rute gerade aus. Warum hatte ich jetzt keine meiner Karpfen-Steckruten in der Hand?
Der Fisch hatte mich also an der Angel und spielte "Wilde Sau"! Klasse! Das konnte stundenlang so weitergehen, wenn er es nur wollte und ich hatte das Nachsehen, um nicht zu sagen "Die A... - Karte".

Nach etwa 10 Minuten hatte ich einen lahmen Arm und mein Kumpel Thomas, der das ganze mit weit geöffneten Augen mitverfolgt hatte, fragte mich jetzt allen Ernstes: "Soll ich übernehmen, oder kannst Du noch?" Ich hätte die Angel mit dem "Fisch meines Lebens" niemals aus der Hand gegeben, nicht einmal wenn ich anschließend Lähmungserscheinungen bis zur Rente gehabt hätte und das wusste er genau.
Dann passierte das Unfassbare! Diese Intelligenz-Bestie von Schuppenträger wickelte meine Angelschnur ein paar mal um die Seerosen. Ich versuchte, sie da wieder herauszubekommen und das schien anfangs auch zu funktionieren, aber als ich wie gelähmt mit ansehen musste, wie sich meine Angel noch ein letztes mal bemühte, ein O zu formen, wusste ich schon was kam. Mit einem nahezu lautlosen "PING" schoss meine Schnur aus dem Wasser. Aus der Traum!!!

Fassungslos starrten Thomas und ich auf die Stelle, die meinen großen, glitschigen Freund vermutlich für alle Ewigkeit in die Freiheit entlassen hatte. Ein flaues Gefühl in der Magengegend entstand noch einmal, als ich sah, dass der Karpfen gar nicht meine Schnur zerrissen hatte. Dafür war der Haken gerade gebogen. Irgendwie war ich traurig über den Verlust. Aber hatte ich nicht Glück im Unglück? Ich hatte eine schöne, große Schleie gefangen. Damit sollte man wirklich zufrieden sein. Außerdem war das nicht mein letzter Angeltag! Wir packten die Angelsachen ein und den Grill aus. Dann redeten wir noch bis in die späten Abendstunden über diesen wundervollen Tag und hofften, dass der heilige Petrus uns auch in Zukunft nicht im Stich lassen würde.

H. Seeger