Abhandlung aus: Hermann Remmert: Naturschutz. Heidelberg: Springer, 1990

zur Entstehung des Neuenburger Urwalds

OHNE DEN MENSCHEN wäre Deutschland überwiegend von Wald bedeckt. Auf sehr durchlässigen Sand- und Kiesböden - etwa um Nürnberg, bei Darmstadt und der Lüneburger Heide - würden Eichenwälder vorherrschen; der überwiegende Teil Deutschlands von Schleswig-Holstein bis in die Alpen würde von Buchenwäldern bedeckt sein. In größeren Höhen (im Harz ab 800 m) würden Fichten eine wesentliche Rolle spielen. Dieser Wald wäre nicht einförmig, so wie man es sich vorstellt. Es würde große Lichtungen geben, in den Eichenwäldern würden große Bestände mit Birken und Kiefern vorhanden sein, und gewitterbedingte Feuer würden durch den Eichenwald hindurchgehen. Auch die Buchenwälder würden große Lichtungen zeigen, und es würde Bestände von Bergahorn, Spitzahorn, Esche, Birke, Hainbuche, Wildkirsche und Wildapfel geben. Im Süden der DDR würden Linden hinzukommen

...

2. Der Effekt konstanter Großsiedlung, der Effekt von Land- und Forstwirtschaft vom Mittelalter bis zur Neuzeit in Europa. Im Mittelalter entwickelte sich ein Typ des Dorfes heraus, welcher ziemlich einheitlich zu beschreiben ist: die Häuser sind mit Reet oder Strohgedeckt und damit brandanfällig.

Zur Brandverhinderung werden zwischen den Häusern Bäume gepflanzt, die möglichst resistent gegen Brände sind - und das sind Eichen. Eichen sind eigentlich typische "Feuerbäume"; Eichensavannen ertragen oder benötigen zu ihrer Erhaltung, wie viele Lebensräume unserer Erde, einigermaßen regelmäßige Wildfeuer. Durch Verhinderung von Wildfeuern hat der Mensch in weitem Maß Landschaften verändert - so konnte sich im Mittelalter infolge der Verhinderung von Wildfeuern die Fichte gegen die Kiefer in Nordschweden weitgehend durchsetzen, und die Fichtenwälder Nordskandinaviens sind insofern mit Sicherheit eine Folge menschlicher Feuerverhütung.

Die Eichen um die Höfe in der Lüneburger Heide mögen zwar nebenbei auch Wohnplätze des alten Wodan gewesen sein. Rational aber waren sie ein von der Obrigkeit vorgeschriebenes Mittel zur Verhinderung des Überspringens von Bränden. Mein Vater, der in der Nähe von Hannover Lehrer war, hat noch die alten königlichen Vorschriften in meinem Heimatdorf eingesehen, die zur Erhaltung der Eichen zwischen den Höfen ausgegeben wurden und die durch das Gebot unterstrichen wurden, daß jeder Hausbesitzer in seinem Haus eine gewisse Menge an wohlgefüllten ledernen Wassereimern zur Feuerbekämpfung bereithalten mußte. Wo die Feuergefahr nicht zu groß war, konnten auch Linden diese Aufgabe übernehmen.

Eichen und Linden erfüllten dazu auch einen anderen Zweck: Eichen lieferten Futter für die Schweine, Linden für die Bienen und damit den Menschen den Honig. Wir kommen darauf gleich noch zurück.

Um die Siedlung lagen Felder, um diese Felder herum schloß sich ein Ring aus Weide, Waldweide und Heide. Dann folgte ein weiterer Ring mit einem Baumbestand, den wir heute als Niederwald bezeichnen würden. Da eine wirklich funktionsfähige Säge erst eine Erfindung der Neuzeit ist, mußte man das Brennholz mit der Axt schlagen, und man achtete darauf, die Stämme nicht zu dick werden zu lassen. Erst der äußerste Ring trug dann Bauholz, war vielleicht noch Urwald. Die Gürtel aus Weide, Waldweide und Brennholz hatten noch weitere Funktionen.

Zum einen tragen Eichen im Wald nur in relativ großen zeitlichen Abständen Eicheln in vernünftiger Zahl, so daß sie als Schweinemast mengenmäßig nicht in Betracht kommen. Isolierte, frei stehende Eichen dagegen tragen in jedem Jahr Eicheln. So bemühte man sich, die Weidegebiete voll starker Eichen zu haben, die in relativ großen Abständen voneinander standen. Hier erfolgte in jedem Jahr die Schweinemast, die das nötige Fleisch lieferte. Heute gibt es bei uns noch überall Reste dieses einstigen Hutewaldes, wir bezeichnen ihn heute vielfach als Urwald, so den Neuenburger Urwald bei Wilhelmshaven oder den Urwald bei der Sababurg in der Nähe von Kassel. Beide Gebiete haben mit Urwald im eigentlichen Wortsinn nur wenig zu tun, sie sind nichts anderes als ein heute sich selbst überlassenes, mittelalterliches Schweinemastgebiet.

Neben den Eichen wurde das Heidekraut Calluna von den Menschen stark bevorzugt. Es lieferte zwar kein gutes Futter für die Tiere, aber es war eine Grundlage für den Ertrag von Honig. Honig war die einzige Zuckerquelle des Mittelalters, und die Menschen aßen damals genauso gerne Süßigkeiten wie wir heutzutage. Infolge des Mangels an Salz wurde zeitweise sogar Honig zur Konservierung von Fleisch herangezogen. Damit hatte die Imkerei eine ungeheuer wichtige wirtschaftliche Bedeutung und die Imker - die Zeitler- einen starken politischen Einfluß. Die Lüneburger Heide entstand nicht nur zufällig als Resultat des Abschlagens der Wälder durch die Lüneburger Saline; sie entstand, weil die Imker mit politischem Druck die Heide förderten.

Eine blühende Heide ist ein Zuckerrübenfeld des Mittelalters, sie ist eine Kulturlandschaft. Natürlich gab es in den verschiedenen Epochen des Mittelalters und der folgenden Neuzeit erhebliche Verschiebungen in diesem Bild. Bekanntgeworden sind vor allem Verschiebungen zwischen Feld- und Weideanteil.

Nach großen Kriegen oder Pestepidemien mit hohen Menschenverlusten wurden weniger Felder bestellt, die Viehwirtschaft nahm zu und die Weiden breiteten sich aus. Hatte sich die Bevölkerung stark vermehrt, nahm der Anteil der Felder auf Kosten der Weideflächen zu, nahm die Viehwirtschaft auf Kosten der Getreidewirtschaft ab (Abel 1973). Die Dörfer konnten erhebliche Nahrungsmittelmengen produzieren und- besonders wichtig - exportieren. Damit konnte die Arbeitsteilung weiter vorangetrieben werden, es konnten immer mehr und immer neue Großsiedlungen- Städte - entstehen.

Die aufblühenden und wachsenden Städte verlangten eine zunehmende Menge an Nahrungsmitteln und an Rohstoffen. Für Heizung, für Glasherstellung, für Metallverarbeitung wurden riesige Mengen an Holz gebraucht, in die Städte geschafft und hier verbrannt. Dementsprechend muß die Luft in diesen Städten und ihrer Umgebung teuflisch gewesen sein viel schlechter als bei uns heutzutage. Noch schlimmer aber ist eine Waldvernichtung, die man häufig übersieht: für Schiffbau und viele andere Verwendungszwecke brauchte man Holz und Teer oder Pech.

In Finnland ist der Wald großflächig dieser Teergewinnung zum Opfer gefallen. Für ein Faß Teer rechnete man 1 ha Wald. Viele Schiffsladungen Teer sind damals aus dem nordfinnischen Hafen Oulu in die mitteleuropäischen, schon technisierten Gegenden transportiert worden. So wurde der finnische Wald damals vernichtet. Was wir heute sehen, ist ein wieder gewachsener Sekundärwald, der wahrscheinlich von dem ursprünglichen deutlich verschieden ist. Über weite Entfernungen wurde auch Getreide und wurde auch Vieh herangebracht. Man macht sich meist keine Vorstellung von den ungeheuren Entfernungen, die die Koppelknechte der damaligen Zeit mit dem Vieh zurückgelegt haben, das sie von der Ukraine nach Frankreich und Spanien trieben.

Der Aufstieg der Hanse und ihre politische Macht basierte zum Teil auf dem Fisch, den sie den Städten liefern konnte; denn Fastenzeit war fast das ganze Jahr. Die Kolonisierung der baltischen Länder, Ostpreußens und Westpreußens durch den deutschen Orden war einfach wegen des hohen Nahrungsmittelbedarfs in Westeuropa nötig. Marion Dönhoff berichtet von dem Wirtschaftswunder in Ostpreußen, welches sich als Folge des großen Nahrungsmittelbedarfs in Westeuropa einstellte.

Der Mensch war damit über die Tragfähigkeit des mitteleuropäischen Systems hinausgewachsen. Fleisch- und Getreidetransport über tausende von Kilometern zu damaliger Zeit war kaum möglich. Der Wald war weitgehend zerstört, die Felder trugen nicht mehr. Es gibt Sprichworte genug, die nach den sehr reichen Rodungsjahren die Armut der ausgeplünderten Felder demonstrieren. Das Getreide trug nur noch das zweite Korn - also doppelt soviel wie die Einsaat. Über den Hering kenne ich noch den Spruch die Mutter kriegt den Kopf und Schwanz, der Vater kriegt das Mittelstück, die Kinder kriegen den Rögen, den Vater und Mutter nicht mögen - ein Hering mußte für 4 Personen ausreichen.

Die Pest, die die Menschheit Mitteleuropas reduzierte und der 30jährige Krieg mit seinen extremen Bevölkerungsverlusten brachten der Natur eine gewisse Erholungspause. Auch lernte man damals, daß Wald nicht nur genutzt, sondern auch gesät werden konnte. Nürnberger Kaufleute sind mit der Entdeckung, wie man Kiefern säen kann, reich geworden und sind mit Nürnberger Kiefernsamen bis nach Spanien und bis in die Ukraine unterwegs gewesen (eine derartig starke und großflächige Florenverfälschung wie im 17. Jahrhundert hält man meist nicht für möglich). Aber das alles half nichts, Nahrung und Holz wurden trotzdem knapp.

Die Dörfer sollten Nahrung und Holz liefern. Kein Wunder, daß sich die Städte mit einem Mauerring umgaben - die Erlaubnis zum Mauerbau hing am Stadtrecht; man brauchte die Dörfer,um sie plündern zu können. Auch auf den Dörfern verhungerten Menschen. Besonders katastrophal wirkte sich in den Wäldern das Abplaggen der Krautschicht und das Ausrechen der Fallaubschicht aus. Beides erwies sich für die Landwirtschaft als notwendig, um bei der inzwischen notwendig gewordenen Stallhaltung den Haustieren eine Lagerstätte zu schaffen und das ausgerechte Material dann später als Dünger auf die ausgebeuteten Felder zu bringen.

Man muß sich klarmachen: die Bäume entnehmen mit ihren Wurzeln dem tiefen Boden die notwendigen Mineralien. Im Herbst wird dies durch den Laubfall an die oberste Bodenschicht zurückgegeben. Durch Ausrechen dieser Fallaubschicht und Abplaggen der obersten Bodenschicht wird der Nährstoffkreislauf unterbrochen und der Waldboden immer ärmer.

...
Damit war der Nährstoffkreislauf im Wald unterbrochen, das Material gelangte zwar auf die Felder, aber es wanderte von hier in die Städte und von dort über die Flüsse ins Meer. Nur ein relativ geringer Teil wurde aus den Städten wieder als Dünger herausgebracht und das nur in einem relativ engen Ring um die Städte. Hier wurde dann vor allem Gemüsebau betrieben - Namen wie "Knoblauchsland" deuten darauf hin. Dieser gedüngte Ring um die Städte deckt sich weitgehend mit dem ,,Scherbenschleier'' um die Städte - mit dem Bereich, in dem man normalerweise Scherben zerbrochener Gefäße finden kann.

L A N D S C H A F T - Ö k o l o g i e, Ä s t h e t i k, P l an u n g
http://www.agr.uni-rostock.de/~oekotext/OEKOTEXT/AR01GEOG.HTM