"Liberté" oder lieber Tee

Daß man bis ins tiefste Ostfriesland  zum Frühstück drei Tassen Tee und ein Stück Torf zu sich nimmt oder daß ein Vierkampf dort aus Lesen, Schreiben, Rechnen und Teebeutelweitwurf besteht sind natürlich Ostfriesenwitze.
       Es gibt aber auch andere Geschichten, etwa die, daß die Ostfriesen die Parole der französichen Revolution auf Anhieb begriffen haben: "Liberté". Kein Witz, denn "lieber Tee" wollen sie immer, er bedeutet ihnen mehr, als man außerhalb der Grenzen ahnt.

Ostfriesen nach Feierabend beim Tee (um 1900):
"Liberté" für die Ostfriesen

         Ihrem Tee sind die Ostfriesen verfallen. Vier Teepausen gehören zur normalen Tageseinteilung der Einheimischen, und daß mehr und mehr Betriebe wegen kürzerer Arbeitszeiten als früher dazu übergegangen sind, Kaffee zu kochen, was schneller geht, findet der Ostfriese "schon daneben". An die sieben Pfund Tee werden hier  pro Kopf und Jahr verzehrt; der Bundesdurchschnitt liegt bei 220 Gramm.
Daß es ein Ostfriese, wenn er nur alt genug wird, in seinem Leben  gut und gern 300.000 "Koppkes" trinkt, hat den Tee im Laufe der Zeit sogar schon zum Politikum gemacht. Mit der Rationierung bei Kriegsbeginn 1939 als Tee und Kaffee als entbehrliche Genußmittel eingestuft und nur als "einmalige Sonderzuteilungen" ausgegeben wurden, hielten es sogar die Nazis für angebracht, in einem behördlich festgelegten "Ostfriesischen Teetrinkerbezirk" eine "Teekarte" für extra Teerationen einzuführen, die ein "Oldenburger Teeverteilungsschlüssel" festsetzte.
     Für die vier Teezeiten am Tag aber reichte es nicht, so daß die Ostfriesen in ihrer Not zusätzlich zu synthetischen Teetabletten,  "Austauschgetränken" wie "Holunda" und sogar zu Brombeerblättern und Kamille griffen. Nach Kriegsende kamen endlich die Hamsterer von Rhein und Ruhr mit Tee zum Tausch gegen ostfriesische Butter.
    Daß Tee zum regelrechten Mittelpunkt des Daseins ausgerechnet  in Ostfriesland wurde, ist auf die traditionell engen Bindungen zu Amsterdam zurückzuführen. Dort hatten Überseefahrer das neumodische Genußmittel vor drei Jahrhunderten erstmals herangeschifft. Mitschuldig ist auch die "Königlich-Preußische Asiatische Compagnie in Emden", die sich 1751 im Beisein des Alten Fritzen etabliert hatte. Schon von der ersten Fahrt brachte das Kompagnie-Schiff "König von Preußen" 546.676 Pfund Tee aus China  nach Ostfriesland mit.    
    In der ganzen Gegend, in der einst sogar die Frauen "dem Trunk ergeben und oft sogar schwer berauscht von dem Hamburger Bier" gewesen waren, übte der Tee auch "als Ersatz für die spirituösen Getränke" seine "sänftigende und mildernde Einwirkung auf das Familienleben" aus.
    Bald war Tee so tief in der Natur der Ostfriesen verwurzelt, daß diese Natur nur noch durch die Kraft des Schöpfers hätte umgekehrt werden können, wenn sie diesem Getränk auf einmal hätten gute Nacht sagen sollen. Dabei ist es geblieben.
     Wie eh und je wird Tee in Ostfriesland nach strengen Regeln zubereitet und getrunken: Pro Person und Tasse ein Löffelchen Teeblätter in immer dieselbe Kanne, mit sprudelnd kochendem Wasser eben bedecken, drei Minuten ziehen lassen, wenn es belebend, fünf Minuten, wenn es beruhigend wirken soll. Dann den Rest nachgießen, Kandis in die Tasse, Tee dazu, Sahne obendrauf - und auf keinen Fall umrühren.
     Die Ostfriesen  bauten ihre Teerituale immer komplizierter aus. So dürfen Fremde nicht vergessen, am Ende den Löffel in die Tasse zu legen. Denn sonst wird pausenlos nachgeschenkt, und deshalb mußte schon mal jemand, wie erzählt wird,  fünfzig Tassen trinken.
    Fest verwurzelt in der Gedankenwelt der Ostfriesen ist:  "Wenn wi keen Tee hebben, muten wi starben."